Leseprobe Nr. 3 aus Von Babylon nach Globylon
In unserer Sprache kann man sich besonders präzise ausdrücken. Ist das ein Klischee, gibt es etwa bessere und schlechtere Sprachen? Wohl kaum, aber typische Unterschiede fallen auf.
Der Ingenieur Gerhard Junker war viele Jahre deutscher Sprecher im Lenkungsausschuss der europäischen Luftfahrtnormung.213 Der Ausschuss hatte Handlungsanleitungen in englischer, französischer und deutscher Sprache so anzufertigen, dass Airbus-Mitarbeiter in Bristol, Toulouse und Hamburg exakt dasselbe verstanden und verrichteten. Die Debatten des Normenausschusses verliefen nach einem gleichbleibenden Muster: In der synoptischen Darstellung war stets der kürzeste Text der englische, der längste der deutsche, und selbst die sprachstolzen Franzosen räumten ein: Der deutsche ist der präziseste – eine willkommene Eigenschaft, wo es um Flugsicherheit geht.
Lassen wir offen, ob Deutsch eine besondere Präzision bedingt oder ob Präzision ein Charakterzug ist, der gewissermaßen im genetischen Allgemeingut verankert ist und sich in der Sprache (oder in mehreren, wie in der Schweiz) niederschlägt. Reizvoll ist dann die Frage, ob zwischen den Auslegungen eine Wechselwirkung bestünde. Die Praxis bestätigt immerhin eines: Selbstverständlich kann man im Englischen so genau wie in jeder anderen ausgebauten Sprache sein. Wenn man sich bemüht. Das tun wir im Deutschen nun mal gründlicher – das ist nichts Neues, und typisch.
Ebenso sicher kann man Gewissenhaftigkeit in jeder Sprache unterdrücken, aber im Englischen gelingt es mit weniger Mühe. Beim Absondern wohlklingender Worte ohne erwähnenswerten Inhalt kann man auf Englisch minutenlang unertappt bleiben. Im Deutschen horchen die Leute schon nach drei Sätzen auf: Der redet ja wie die Regierung!
Die deutsche Sprache ist nicht als solche präziser, aber sie ermuntert zur Präzision. Englisch erlaubt einen großzügigeren Umgang mit dem Wort.
… (im Buch Von Babylon nach Globylon weiter auf Seite 172)