Wie sich Arzt und Patient zueinander verhalten, welche Beziehung, welches Vertrauen, oder gar Übereinstimmung für ein gemeinsames Wagnis entstehen, das ist schon die halbe Heilung. Hausärzte der alten Schule wissen es, Patienten erkennen es intuitiv. Zwar kann Verständigung auch ohne Worte geschehen, aber das bleibt die Ausnahme.
Bei der Anamnese muss nicht nur informiert, es muss vor allem verstanden werden. Da muss sich der arme Arzt ausmalen, was der Patient auch noch gemeint haben könnte – das gelingt schon bei gleicher Muttersprache nicht immer. Angesichts der tastenden Beschreibungen unserer Symptome erwarten wir etwas von den Ärzten, das im Curriculum ihres Studiums fehlt. Nennen wir es sprachliches Einfühlungsvermögen, einen regional gefärbten Wortschatz, endlich auch Zeit, die man nicht mehr hat, als Arzt. Kurzum, Voraussetzung ist die ordentliche Beherrschung der Landessprache, und die Bringschuld dafür liegt im Zweifel beim Arzt.
Wie viel Schaden entsteht in Praxen und Spitälern durch sprachliches Irren? Für Ärzte aus so vielen Nationen ist unser Land reizvoll genug, dass sie zu uns kommen. Einige sprechen die Weltsprache (schlechtes Englisch), da halten manche einheimische Patienten noch mit. Chaotisch wird es, wenn wir die Pfleger in unser Bild einbeziehen. Ohne die türkischen und polnischen Mitarbeiter wäre schon alles kollabiert. Das bestätigen Betroffene und Angehörige. Aus eigener Anschauung im Altenheim darf ich hinzufügen: Zum Glück erlebe ich gelegentlich das Gespräch mit Schichtleitern deutscher Muttersprache, also ohne die Nachteile eines Wanderungshintergrundes. Da gibt es subtile Veränderungen des Patientenzustandes mitzuteilen, feine Unterschiede richtig zu begreifen, alternative Konsequenzen abzuwägen.
Das Bedürfnis nach Eindeutigkeit hat nichts mit Vorurteilen zu tun. Aber Fehleinschätzungen sind weniger wahrscheinlich bei sprachlicher Übereinstimmung; man kommt zu Antworten, die sonst zufällig oder zu spät entstünden. Oder, um es genau zu benennen: Wenn wir schon darauf angewiesen sind, unsere Mediziner aus Kerala und die Pfleger aus Bahia ins Land zu locken, dann müssen wir umso gründlicher für ihre Sprachbeherrschung sorgen. Wir haben keine Wahl, oder wollen wir von 83 Millionen Einwohnern erwarten, dass jeder ein Dutzend fremder Sprachen erwirbt, und zwar anamnesefest? Oder legen wir den Ärzten und Pflegern mit Erfolg nahe, dass sie Deutsch erwerben, und zwar auf C2-Niveau gemäß dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GER)? Einen Ersatz für die Landessprache bietet die Weltsprache (wie gesagt: schlechtes Englisch!) eher nicht, obwohl das hierzulande so mancher glaubt. Das Gegenteil von Glauben ist Wissen. An dieser Stelle ist das zu riskant.