Muss man im Ruhrgebiet geboren worden sein, um „Salz & Eisen“ lesen zu wollen? Nein, das können auch alle anderen. Aber worum geht es bei dem Roman? Wen immer ich zum Thema bewaffnete Kämpfe im Ruhrgebiet befragte: die meisten sagten: „Ja, da war was!“ – und verwechselten die Ruhrbesetzung (durch französische und belgische Truppen 1923) mit dem Ruhrkampf im Frühjahr 1920. Dem Autor Horst Hensel verdanken wir aus einem ähnlichen Themenkreis „Die Sehnsucht der Rosa Luxemburg“ (1987) und „Stauffenbergs Asche“ (2001). Ruhrkampf, das waren die vier heißen Wochen nach dem Kapp-Putsch, als im Revier die Revolution von 1918 fortgeführt werden sollte. Daher das knallige Rot des Schubers mit den drei Bänden. Darin erzählt Hensel von Menschen der damaligen Zeitgeschichte, einer Geschichte, die man kennen sollte, um die weitere Entwicklung hin zum Dritten Reich besser zu verstehen. Aus gutem Grund zitiert Hensel das „Kampflied“ der Brigade Ehrhardt im Jahr 1920:

Hakenkreuz am Stahlhelm/schwarz-weiß-rotes Band/die Brigade Ehrhardt/werden wir genannt/Die Brigade Ehrhardt schlägt alles kurz und klein/wehe dir, wehe dir, du Arbeiterschwein.

Auf den Angriff der Putschisten reagieren die Bergleute und Stahlarbeiter mit Aufstand. Gleich zu Beginn der Lektüre staune ich darüber, dass die Putschtruppen nichts von Arbeit wussten, nichts davon, dass  z. B. die Patronen der Soldaten von denjenigen hergestellt wurden, denen sie letztlich galten, den Arbeitern. Ähnliche gegen das moderne Wahrnehmen und Denken gebürstete Entdeckungen kommen beim Lesen immer wieder vor. Eine dabei auftauchende Frage ist: Was darf man seinen Lesern heute noch zumuten? Ein Roman über Arbeiter und Revolution, über Klassenkampf und Bürgerkrieg sei nicht cool, den könne er sein lassen, wurde Hensel geraten. Seine Antwort erinnert an George Mallory. Gefragt in einem Interview, warum er – das war 1923 – den Mount Everest besteigen wolle, soll er gesagt haben: „Weil es ihn gibt!“ So dürfte auch Hensel vor 20 Jahren mit dem Basislager für sein 1000seitiges Epos über den Bürgerkrieg im Frühling 1920 begonnen haben: „Weil es ihn gegeben hat!“ Als die Betrogenen nicht länger ertrugen, was schneidige Weltkriegsoffiziere nicht lassen konnten: die junge Republik in die kaiserliche Vorzeit zurück zu schießen. Nach einem Stellungskrieg, den diese Militärs noch bis Ende 1918 fortgeführt hatten, als sie längst wussten, dass er nicht mehr zu gewinnen war. Militärs, denen auch 16 Monate später das Leben eines Menschen ohne ihren Stallgeruch keine Kartoffel wert war.

Heute würden wir die Männer testosteronübersteuert nennen, die sich da in von der Auflösung bedrohten Freikorps im Reich herumtrieben. 1920 putschten sie mit der Reichswehr gegen die gewählte Regierung, erklärten Wolfgang Kapp zum Reichskanzler, aber die Ministerialbürokratie machte nicht mit, und zwölf Millionen Arbeiter und Angestellte nahmen den Generalstreik auf – den größten der deutschen Geschichte. Sogleich war der Putsch erledigt: ein Ruhmesblatt für die damaligen deutschen Werkeltagsmenschen mit ihrem Bekenntnis zur Demokratie. Auch der Streik wurde beendet, aber schon waren mordende Trupps im Ruhr-Revier unterwegs, den Pöbel auf Vordermann zu bringen. Gegen sie erhoben sich die Arbeiterschweine, gegen die nämlichen Offiziere, denen sie als Kanonenfutter gedient hatten. Womit die Fronterfahrung der Aufständischen erklärt ist. Zentral organisiert war ihr Widerstand nicht, es gab keine Kommandozentrale, kein gemeinsames politisches Programm der Sozialisten, Kommunisten, Gewerkschafter. Spontan gebildete lokale Vollzugsräte übernahmen die politische Gewalt, 50.000 bewaffnete Putsch-Gegner bildeten die „Rote Ruhrarmee“.

Über diese politischen Kenntnisse sollte man umrisshaft schon verfügen, denn im Mittelpunkt des Romans stehen die normalen Menschen vor Ort. Kohle musste unter allen Umständen gefördert werden, für die Reichsregierung war das wichtig, denn die Reparationslieferungen wegen des verlorenen Kriegs waren auch in Kohle zu leisten, sonst drohte der Einmarsch der Siegertruppen (drei Jahre später war es dann doch so weit). Aber in Kontrolle war die Regierung nicht, auch nicht Generalmajor Oskar von Watter, Chef des Wehrkreises VI in Münster – die Aufständischen und die Freikorps schon gar nicht. Es gab Verhandlungen, die in ein „Bielefelder Abkommen“ mündeten, aber beteiligt waren nur die Reichsregierung und Teile der Aufständischen, niemand von der Roten Ruhrarmee, keine Vertreter der radikalen Arbeiterräte und des Militärs. Eine Handvoll Gedenkstätten im Revier, meist nur den Heimatpflegern vertraut, erinnert an Verlauf und Ende der Geschichte. Ich war überrascht, mehr sei hier nicht verraten.

Nebenbei erspüre ich als Leser bisher Unverstandenes über das Zusammenleben der Alteingesessenen und der Zuwanderer in den Bergbaugebieten. Hier die Bauern, bei der harten Arbeit dem Wetter ausgeliefert wie schon immer; dort die Mineure, von weither angelockt, die ihre Arbeitszeit unterhalb der Scholle verbrachten, ganz andere Auffassungen vom Leben mitbrachten, sehr Fremdes kochten und komisches Deutsch sprachen, wenn überhaupt – das musste ja Spannungen provozieren, die in „Salz & Eisen“ im Hintergrund knistern.

Was macht Hensels Geschichte so lesenswert, auch in ihrem epischen Umfang? Meist sind ja wir Leser schlauer als die Personen im Getümmel des Romans. Im Ruhrkampf gab es weder für Freund noch Feind einen Überblick. Das Vorantasten der Leute, die nicht klagen, aber ihrem Schicksal folgen, macht den Reiz des Romans aus. Auch als Leser suchen wir nach einem Geländer durch die Ungewissheit. Gelegentlich und überraschend nimmt uns der Autor als erzählender Zeitzeuge an die Hand. Wir lernen eine ganze Welt kennen: Zechen und Hütten, Hochzeiten und Kneipenversammlungen,  Feldzüge und Schlachten, Vorlesungen über Kants „Kritik der reinen Vernunft“ und Liebesgeflüster, wir gehen auf die Wochenmärkte, befinden uns im Reichskanzleramt und beim Reichspräsidenten, auch in der Reichsbank und auf einem Industriellentreffen, die Orte sind neben dem Ruhrgebiet mehrmals Berlin, ist Koblenz mit dem Headquarter der US-Truppen, ist Moskau mit Lenin, ist sogar Barcelona – und es gibt, bei aller Realistik, auch nächtliche Surrealismen, wenn nämlich Heinrich Heine auftaucht. Der Roman bietet eine ganze Welt. In aller Breite. Und von oben nach unten und umgekehrt. Das ist heute selten. „Salz & Eisen“ nenne ich deshalb lesenswert.

Und der Stil? Er ist ironisch. Heldengesänge stimmt dieser Autor nicht an. Sein Deutsch ist reich und sehr genau, so reich und so genau, dass es gelegentlich Anstrengung abverlangt. Dann wünscht man sich als Leser nicht mehr ständig auf eine Höhenwanderung mitgenommen zu werden, sondern eine Weile Rolltreppe  fahren zu dürfen. Hensel erzählt mit Absicht so, dass das Tempo der Geschichte in den Horizont passt, den die Menschen im Roman erleben, und mit dem wachsenden Einblick steigt der Lesegenuss. Wie von selbst vergleichen wir: Heutzutage würden uns die neuen Medien pausenlos mit – zumeist falschen – Informationen bombardieren.

Lesen Sie, entschleunigen Sie Ihr Leben, tauchen Sie in die wortkarge Wärme der Hauptpersonen ein, in die Not und Nähe der Kumpel, der Mütter und Frauen. Besonders diesen widmet Hensel viel Aufmerksamkeit. Da gibt es die beiden jungen Köchinnen Henriette und Auguste, das gibt es die königinnenhafte Frau Katharina, da gibt es Krankenschwestern an der Front und am Ende sogar Kämpferinnen – und da gibt es die fast schon sagenhafte „olle Kalinna“ aus den Wäldern südlich der Ruhr. Und schließlich Amalie Schaumann mit ihrem bewegenden Aufruf zur Niederlegung der Waffen. (Schaumann und viele andere Personen sind historisch verbürgt.) Begegnen Sie dem Lokführer und Heizer, die gegen ihren Willen einen Zug voll Militär ins Revier bringen. Oder dem jungen Kerl auf dem Motorrad, dem stillen Helden der Geschichte, Sie werden nicht vergessen, was aus seinem Krad wird. Der Personen sind so viele, dass Hensel ihre Namen und Funktionen in einem Beiblatt aufführt. „Salz & Eisen“ ist damit besser zu lesen als „Krieg und Frieden“. Bekommen Sie eine gute Lektüre für das Nachtkästchen? Auf meinem lag es. Auch das Format in drei Bänden erleichtert die Lektüre im Liegen.

Oliver Baer am 15. Februar 2024:  Horst Hensel, „Salz & Eisen“, IFB Verlag Deutsche Sprache, 1.Auflage 2024, 1080 Seiten (gebunden), 69,40 €, ISBN 978-3-949233-14-2