Hier wird dem Argument begegnet, dass schon allein die Pflege der deutschen Sprache nur in der Naziecke enden könne. Ein billiges Argument.
Theotisk ist Deutsch, die Sprache des Volkes
Verwirrt ist, wer sich in das Studium der deutschen Geschichte wagt. Er findet zunächst keine Deutschen, wie wir sie innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik heute definieren. Er findet Menschen, die Theotisk sprechen – was nichts anderes bedeutete als die „Sprache des Volkes“. In das Mosaik der Geschichte gehört, dass das Rückgrat der englischen Sprache von den Sachsen, Angeln und Jüten über das Meer nach Britannien gebracht wurde. Dass uns das Angelsächsische als Welthandels- und Verkehrssprache Kopfzerbrechen bereitet, haben wir uns daher selber zuzuschreiben. Wären die Germanen geblieben, wo sie lebten … aber so denken seriöse Historiker nicht.
Jahrhundertelang verband die Menschen in Mitteleuropa, die Deutschen, nur die Sprache, nichts als die Sprache. Das Wort theotisk, aus dem das Wort deutsch wurde, beschrieb die Gemeinsamkeit einer Sprache, damals gleichbedeutend mit der Gemeinsamkeit eines Volkes, lange bevor ein deutscher Nationalstaat entstand, Jahrhunderte nach den klassischen Nationalstaaten Frankreich und England. Nebenbei bemerkt, es waren Jahrhunderte, als von den Deutschen kein Angriffskrieg ausging. Kriege wurden von den Deutschen erlitten, nicht angefacht.
Das Dritte Reich?
Beleuchten wir den Vorwurf, der Verein Deutsche Sprache oder die Stiftung Deutsche Sprache folgen einem nationalistischen Impuls, wenn sie sich bemühen, die deutsche Sprache zu erhalten, zu pflegen und zu entwickeln. Von welcher Nation mag in diesem Vorwurf die Rede sein? Vom Dritten Reich wohl kaum. Deutsch war die Sprache auch der nationalsozialistischen Massenmörder, das steht fest. Aber welche Sprache? Hitlers und Goebbels Deutsch war ein äußerst wirksames, aber miserables, kaum zu ertragendes Deutsch, durchsetzt von stahlharten Fremdwörtern (fanatisch, Fanal, Garant, Propaganda). Das Vokabular verwies auf mechanische oder gleich auf militärische Verrichtung, es hat der Kultursprache viel von ihrer Einfühlsamkeit genommen.
Eine Sache groß „aufziehen“, den Glauben der Volksgenossen „ausrichten“, Menschen in ein Amt „einsetzen“, Lösungen „umsetzen“ – alles Beispiele aus der Sprache des Unmenschen. Man könnte statt aufziehen darbringen, statt ausrichten einstimmen, statt einsetzen hineinwachsen und statt umsetzen verwirklichen sagen. Allerdings müsste man seine Sätze anders bilden, in der Tat, es müssten andere Gedanken fließen, die zu einem anderen Gebrauch der Wörter führen, und die Wörter ermöglichten ein anderes Denken. Wurde unserer Sprache durch diese LTI – die lingua tertii imperii (Sprache des dritten Reiches) – wirklich etwas genommen? Die besseren Wörter gibt es doch weiterhin? Ja, aber sie werden kaum noch gebraucht. LTI lebte fort in der Bundesrepublik und in der DDR und ist bis heute nicht besser geworden.
Das Zweite Reich?
Aus sprachlichen Gründen berufen wir uns also nicht auf das Dritte Reich, aus allen anderen Gründen schon gar nicht. Schwebt daher dem Sprachpfleger das Zweite Deutsche Reich vor Augen, das Reich Bismarcks, die kleindeutsche Lösung? Das war immerhin eine Reichsbildung ohne Österreich, ohne die Schweiz und ohne die zahlreichen Minderheiten rings um unsere heutigen Grenzen, von Südtirol über das Elsass, das östliche Belgien, das südliche Jütland. Das berührt die unglückliche Nationengeschichte unserer polnischen Nachbarn, denen auch die – vergleichsweise bescheidene – kleindeutsche Lösung weder ein eigenes Vaterland noch gleichberechtigten Minderheitenstatus zugestehen mochte. Und es berührt die deutschen Minderheiten in den Nachfolgestaaten des Habsburger Reiches. Die kleindeutsche Lösung war keine konsequent kleindeutsche, sie bedeutete in Polen zu herrschen, auf Böhmen zu verzichten.
Der Verein Deutsche Sprache trägt in seinem Logo mit Schwarz-Rot-Gold die Farben der Paulskirchenversammlung von 1848. Das war eine gutbürgerliche Versammlung der feinsten Geister deutscher Zunge, mit freisinnigen Gedanken, die zu kennen es dem Sprachpfleger gut anstünde. Und es war übrigens ein Jude, Eduard von Simson, der umsichtige Versammlungsleiter der Paulskirche, den die Delegierten beauftragten, dem König von Preußen die Kaiserkrone anzutragen; ein erinnernswerter Verweis auf den Beitrag der emanzipierten, gleichgestellten Juden zum Geistesleben jener Zeit in Deutschland. Auf diese fruchtbare Zeit zwischen dem 1. und dem 2. Reich – zwischen 1806 und 1871 – könnte man sich demnach schon eher berufen. Schwarz-Rot-Gold bedeutete keinen realen Nationalstaat. Die Farben waren Symbol für eine kulturelle Gemeinschaft, die sich von der Bevormundung durch ihre starken Nachbarn befreien mochte und dafür einen eigenen Nationalstaat zu benötigen glaubte.
Ein Rest von Unzufriedenheit bleibt, denn die Paulskirchener kamen zu keinem brauchbaren Ergebnis: Die großdeutsche Lösung musste entweder voraussetzen, dass sich das Habsburger Reich aus freien Stücken selbst auflöste (eine vergleichbare Leistung hat bisher nur Michael Gorbatschows Sowjetunion vollbracht) oder das neue Kaiserreich der Deutschen hätte die Millionen Tschechen, Ungarn und viele andere als Erbe des Habsburger Reiches übernehmen müssen. Dem stand die kleindeutsche Lösung gegenüber, welche diesem Erbe ausweichen sollte, sie meinte ein deutsches Reich ohne die Deutschen in den österreichischen Stammlanden. Dreiundzwanzig Jahre später setzte Bismarck dann die kleindeutsche Lösung durch, allerdings mit demselben Geburtsfehler, zu dessen Behebung die Einsicht oder die Kraft fehlte.
Das Erste Reich?
Das heißt, keine der beiden Lösungen erfüllte beide Bedingungen zugleich: Dass sie alle Menschen deutscher Sprache umfasste und, dass sie den unvermeidbaren fremdsprachlichen Minderheiten zugestand, worum es den Deutschen selbst ging. Denn im Grunde hätte es genügt, kulturelle Autonomie zu erlangen, egal in welchem und egal in wievielen deutschen Bundesstaaten. Damit kehren wir zum Kern der Sache zurück. Den VDS und die Stiftung interessiert keine Nation im Sinne eines Staates, es interessiert sie nur die Sprache, oder wenn man so will: die Nation im Sinne eines Volkes, jenseits aller staatlichen Grenzen. Das Modell dafür liefert das Erste Reich, in jener langen Zeit, als es einen Staat Deutschland nicht gab. Es gab die Deutschen, womit man nichts anderes meinte als jene, die Deutsch sprechen – theotisk, die Sprache des Volkes. Sie lebten im Rahmen eines europäischen Gebildes, das sich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation nannte. Dieses Reich umfasste zahlreiche souveräne Staaten, etwa so wie die Europäische Union unserer Tage aus souveränen Staaten besteht.
Wenn überhaupt ein nationaler Impuls mit Sprachpflege etwas Ernstzunehmendes zu tun hat, kann es nur der des Ersten Reiches sein, es sei denn, man würde Millionen deutschen Muttersprachlern absprechen, sie hätten etwas mit der deutschen Sprache zu tun. Dieser Impuls des Ersten Reiches passt – zufällig? – in die europäische Landschaft besser als die Sehnsucht nach der Gloire Française und sicherlich sehr viel besser als das imperiale Gehabe unserer angelsächsischen Nachfahren jenseits des Kanals, die sich für Europa nur insoweit interessieren, als es ihnen wirtschaftlich in den Kram passt … und sofern die Leute gefälligst Englisch sprechen. Nicht zufällig sind die Deutschen die musterhaften Europäer, es liegt in ihrer Geschichte begründet. Wie dort auch begründet liegt, dass die Deutschen mitunter zu nachgiebig sind, dass sie sich krummlegen zu assimilieren, was an Fremden auf sie einströmt und, dass sie gelegentlich in das andere Extrem geraten und sich als die Größten aufspielen, als müssten sie kompensieren, was sie zuvor zu viel vergeben haben.
Die Zeit der Großmannssucht beginnt im 19. Jahrhundert, als an der nationalstaatlichen Engstirnigkeit alle litten, als auch die kleinsten Nationen Europas zu Chauvinisten wurden und einen eigenen Staat verlangten, stets auf Kosten der sprachlichen Minderheiten in ihren Grenzen. In der Mitte Europas hätte uns theotiske Menschen etwas Bescheidenheit geadelt, aber die Chance haben wir vertan. Wie auch unsere Nachbarn sich nie als die Klügeren erwiesen haben. Wir Menschen deutscher Sprache, ob kleindeutsch oder großdeutsch gestimmt, können die letzte Gelegenheit ergreifen, die sich noch bietet: Retten wir vor dem Verfall, woraus unser wichtigster Beitrag zu Europa besteht, retten wir unsere Kultur! Dazu zählt unsere Sprache. Die Kultur zu retten, wird ohne unsere Sprache nicht gelingen. Sie zählt zum Bauwerk Europa, zum Gesamtkunstwerk Europa, auf sie können wir ebenso wenig verzichten wie auf die Leistung aller anderen Mitarbeiter der Bauhütte aus Italien, Böhmen, Flandern usw. – die Liste ist so lang wie die Zahl der Länder und Regionen Europas. Sie alle brauchen zu diesem Gesamtkunstwerk ihre eigene Muttersprache. Sie alle sind dabei, ihr Bestes für einen Big Mac zu opfern, und wieder einmal stehen wir ganz vorne in der Schlange.