Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn (Bild: Behland)

Sein Lieblingswort sei „einander“, wissen wir von Bastian Sick, dafür hat er sogar die Patenschaft übernommen. Eine gute Wahl, denn „einander“ wird kaum noch verwendet, es stirbt aus, wie man so sagt. Dabei ist es unersetzbar, oder sollte es sein, denn „sie liebten sich“ ist nicht dasselbe wie „sie liebten einander“.

Da widerspricht der Volksmund, gemeint sei genau dasselbe. Womit er recht hat, denn kein anderer als der Volksmund, genauer: die Sprachgemeinschaft macht die Sprache. Das sind wir alle, die wir uns der Sprache bedienen, sie gebrauchen und missbrauchen, dass es eine Freude und eine Schande ist. Streng genommen hat der Volksmund nicht recht, oft redet er Stuss, aber er behält recht – was die Sprache angeht. Insofern stimmt es, wenn von Zweien die Rede ist und sie sich liebten, da gibt es keinen Zweifel, wer da wen liebte: der Eine den Anderen, und umgekehrt. Oder neuerdings: der/die Eine den/die Andere. Wobei, wenn man es so sagt, etwas verloren geht, aber so redet man nicht, schon gar nicht der Volksmund.

Nicht erst neuerdings verlieren wir etwas anderes, den angemessenen Gebrauch des Wörtchens „sich“, wenn es nur um einen Teilnehmer am Geschehen geht und dieser keine Person ist. Der Mensch entwickelt sich, die Gesellschaft tut es, auch der Feminismus verändert sich über die Jahre. Die Person ist sich sicher, manche wissen sich im Besitz der Wahrheit, Mütter versichern sich der Hilfe durch ihre Partner. Aber die Sprache, ist sie verunsichert, entwickelt sie sich? Um das zu können, müsste sie sich ihrer selbst bewusst sein. Sie müsste irgendwann ahnen, bald wissen und schließlich die Ärmel hochkrempeln und verkünden: Von nun ab soll alles Neue auf Englisch benannt werden, von nun ab gibt es keine Väter und Mütter (nur noch Teile von Eltern) und Frauen sind Personen mit Menstruationshintergrund. So einfach geht das: Die Sprache entschließt sich zur Entwicklung, zu ihrer eigenen Weiterentwicklung und schreitet voran, ein fröhlich Lied auf den Lippen, womöglich auf dem Rücken eines Pferdes in Richtung Sonnenuntergang.

Das macht sich immer gut, stimmt aber nicht, denn all das könnte die Sprache nur unter einer Voraussetzung: Sie müsste ein Lebewesen sein. Das ist keine Sprache, und was nicht lebt, kann nicht sterben. Dennoch wird der Volksmund weiter reden, wie ihm zumute ist. Nicht nur er, sogar Sprachwissenschaftler sagen: „Die Sprache lebt, sie verändert sich.“ Na gut, einverstanden! Dann aber bitte unter einer Voraussetzung: Redet, wie ihr wollt, aber seid euch bewusst, was ihr sagt und werft nicht mit Wörtern wie mit Lehm. Oder haltet auch mal die Klappe.

Es gäbe auch die umgekehrte Lösung des Problems: Wäre Sprache tatsächlich ein Organismus und zu allem Genannten fähig (Bewusstsein, Entschlussfähigkeit und Tatendrang), bliebe dem Schreiber dieser Zeilen nur diese Bitte: Dann lasst uns nicht nur netter mit der Sprache umgehen, sondern unsere Pflicht und Schuldigkeit erkennen! Wie beim Schutz der Tiere, der Kinder, der Frauen, der Natur, der Erde, also auch der Sprachen. Und dabei bedenken: Zum Denken, also zum folgerichtigen Denken, zu diesem Kopfschmerzen schaffenden Vorgang im Gehirn brauchen wir die Sprache. Je bewusster wir damit umgehen, desto eher dürfen wir auch mal Stuss reden. Denn wir wissen, was wir tun. Und kommen miteinander aus.


Dieser Beitrag wurde im Herbst 2021 in den Sprachnachrichten des Vereins Deutsche Sprache (IV/2021) veröffentlicht.