In der guten alten Zeit, sagen wir vor über 100 Jahren, haben wir unsere Liebe noch handschriftlich zu erklären versucht. Wir haben das Papier in einen Umschlag gefaltet, mit zitternder Hand die Anschrift angebracht, eine Marke draufgeklebt und sind damit zu einem gelben Postkasten gepilgert. Wir haben auf Antwort gehofft und oft auch erhalten. Korrespondenz machte Mühe, die gaben wir uns, nicht immer mit Erfolg, aber in aller Regel mit einem gewissen Anstand.

Energie für nützliche Dinge bewahren (Bild Behland)
Digital geht das praktischer. Für Zuneigung, Verliebtheit und Liebe genügt ein Smiley-Herz, und „Mit uns beiden ist es aus!“ lässt sich mit einem kalten Klick erklären. Heute können wir schmähen, verbal vergewaltigen, zum Mord oder auch gleich zur Ausrottung ganzer Gruppen aufrufen, und eine Antwort erübrigt sich, sie interessiert nicht. Wir pöbeln in der Gesellschaft Gleichgesinnter, notfalls aus dem sicheren Versteck einer nicht auffindbaren IT-Adresse. Hauptsache, wir haben unserem Herzen Luft gemacht.

So weit, so ungut. Nun aber sieht es so aus, als regte sich hier und da ein Gewissen. Hat es je eine Zeit gegeben, als die Sprache so oft zur Sprache kam, zumal unter Politikern, die schon selber nicht zögern zu pöbeln? Es mehren sich die Aufrufe zum zivilen Umgang miteinander. Glücklicher sind wir mit dem Schleifen der sprachlichen Hemmschwellen nämlich nicht geworden, und die Gesellschaft, in der wir leben, ob wir es wollen oder nicht, sortiert sich neuerdings neu: Die einst sichere Mitte, wo liegt sie, an welchen Parolen erkennt sie einander? Welche Ausdrucksweise passt angesichts der Pöbelei der Einen und der Scheinheiligkeit der Anderen?

Hier bietet sich eine rare Gelegenheit zur Besinnung. Zur Erkenntnis, wie wir einander mit Sprache radikalisieren – oder einander wieder näherkommen. Sicher wäre es zuviel verlangt, dass jeder von jetzt auf gleich die richtigen Worte finde. Aber wie wäre es mit einem Kniff? Spätestens vor dem flotten Klick auf Senden erinnern wir uns an den alten russischen Brauch: Vor Antritt der Reise eine Minute auf den Koffern sitzen, einen letzten Augenblick der Ruhe vor der nahen Hektik verbringen.

So dumm wie ein Spiegel

Demnach verharre ich einen Augenblick und stelle mir vor, ich würde, was ich zu sagen habe, mit einer Füllfeder auf ein Blatt Papier schreiben, auf ein farbiges, vielleicht ein handgeschöpftes Papier. Schon bei der Anrede hätte ich abzuwägen, was ich bezwecke. Sicher würde ich hier und da zögern, etwas durchstreichen, mich gewählter ausdrücken, eine Frechheit ungesagt lassen, auch wieder von vorne anfangen, das Geschriebene in den Papierkorb werfen. Bis es zum Aufkleben der – imaginären – Briefmarke kommt, würde ich auch mal darüber schlafen, so mancher Brief würde gar nicht erst versandt, und wenn doch, dann mit Wirkung, weil besser überlegt.

Zu üppig dieser Kniff, wer gäbe sich schon diese Mühe? Mag sein, aber realistischer wäre der Kniff als die Abschaffung des Internets – die anderswo schon erwogen wird – oder der Impuls, den digitalen „sozialen“ Medien den Strom für die Server abzuschalten. Das wird nicht geschehen. Aber machen wir uns nichts vor. Die Sprache des Netzes entwickelt sich nicht, sie wird von uns entwickelt. Das Internet ist so dumm wie ein Spiegel, und der zeigt die Gesellschaft, wie sie ist. Etwas anderes kann das Netz nicht. Es wird Zeit, dass wir dem Netz etwas Intelligenteres abzubilden geben als scheinheiliges Gutsein und pöbelhaftes Besserwissen. Dazu müssen wir bei uns selbst anfangen, und unser Zeichen sei die Briefmarke – in den Köpfen.


Dieser Beitrag wurde im Winter 2019 in den Sprachnachrichten des Vereins Deutsche Sprache (4/2019) veröffentlicht, und hier im Blog der baerentatze umständehalber erst heute.