Volk, das unbekannte Wort (Bild: Wikipedia)
Volk, das unbekannte Wort (Bild: Wikipedia)
Wem gehört die Sprache? Dem Duden, den Bürgern, der rechtschreibenden Tante Klara? Anders gefragt, mit einem Blick auf benachbartes Kulturgut: Wem gehört Mozart? Den Deutschen, den Österreichern, den Salzburgern, den Wienern? Der ganzen Welt? Oder ganz persönlich: Gehört der langsame Satz seines d-Moll-Streichquartetts der verflossenen großen Liebe? Gehört in der Kultur überhaupt etwas irgendwem – außer dem Urheber, wohlgemerkt? Gehört die Sprache allen, so gehört sie keinem – das kommt auf dasselbe heraus. Warum solche Fragerei? Weil uns Besitzansprüche zu schaffen machen, die unseren Sprachgebrauch einengen.

Sehen wir es vom Standpunkt des Einzelnen: Keiner verdient Vorwürfe für seine Vorlieben und Abneigungen. Etwa wenn ihm Wörter Pein bereiten, weil sie von einem Joseph Goebbels bis zum bitteren Ende durch die Medien gepeitscht wurden. Das war der Propagandaminister mit der Vorliebe für Fremdwörter: „fanatisch“, „Fanal“, „total“. Beinahe harmlos war dagegen Herbert Wehners „Übelkrähe“, zum Ärger des so beschimpften Abgeordneten Wohlrabe (und vermutlich seines Sohnes auf dem Schulhof). Wer besaß die Übelkrähe?

Konsequenterweise verdient Vorwürfe auch nicht, wem bei „Umvolkung“ schlecht wird. Schon „völkisch“ kann einem sauer aufstoßen. Ältere Mitbürger zögern schon bei dem Wort „Muttersprache“, ihnen baumelt gleich der Kitsch des Mutterkreuzes vor dem inneren Auge. Es gibt Wörter, die sind mit Altlasten verseucht wie alte Armeetankstellen mit Diesel. So verlieren wir Wörter, ganze Begriffsfelder an Feinde, auch Freunde, an Umstände jenseits unserer Reichweite. Muss das so bleiben, oder kann man belastete Wörter wieder salonfähig machen?

Man kann es vielleicht nicht immer, bei dem Wort „Volk“ muss es sogar geschehen. Das Volk gab es lange vor 1933, lange bevor Deutschland 1867 zu einem Staat (wenn auch ohne die Deutschen des Habsburger Reiches) zusammenwuchs. Das Wort „Volk“ ist über ein Jahrtausend alt. Es ist das wichtigste Wort der deutschen Sprache. Dazu ein Blick auf die europäische Geschichte

Seit Ende des 8. Jahrhunderts ist das lateinische Wort „theodiscus“ in Dokumenten zu finden. Es ist bezogen auf das gotische thiuda (Þiuda) mit der übertragenen Bedeutung des Begriffes „Volk“. „Theodiscus“ bedeutet daher „volkssprachlich“, womit man sagen wollte: „nicht das Latein der Gelehrten“. Die Volkssprache diente der Verständigung der nichtgelehrten Leute untereinander. In allen Dokumenten geht es um Mitglieder der germanischen Sprachfamilie. Selbst Jahrhunderte später, als es über „theodisc“ „diutisc“, „diutsch“ schließlich zu „dütsch“ gewandelt wurde, bezeichnete das Wort sprachliche Gemeinsamkeit, nicht etwa sprachliche Einheit: Es diente zur Unterscheidung der eigenen von fremden Sprachen (genauer, spannender und auch für Nichtlinguisten nachvollziehbar, ist Eine kurze Geschichte der deutschen Sprache) von Jochen Bär.

Womit wir zur Kernfrage gelangen. Lassen wir uns dieses Wort nehmen, so fehlt uns der einzige Begriff, der uns zusammenhält: Das deutsche Volk ist definiert durch seine Sprache, nur durch die Sprache und sonst nichts. Kein Wunder, dass es uns schwerfällt Einigung über eine Leitkultur zu finden, oder gar einen „deutschen Geist“ dingfest zu machen. Dazu sind wir in Mitteleuropa ethnisch viel zu gründlich durchmischt, nicht erst seit wir über eine Million Gastarbeiter ins Land riefen. Seither wird hier mehr Pizza verputzt als Jägerschnitzel. Das Deutschsein durch eine Liste von Wesensmerkmalen zu definieren, so verständlich die Sehnsucht danach sein mag, gelingt nicht. Die meisten dieser Merkmale teilen wir mit einem oder mehreren Nachbarvölkern. Nationaler Chauvinismus hat uns mehr Unheil als Segen beschert.

Beschränken wir uns daher auf das einzige wirklich Deutsche, die gemeinsame Sprache. Bestehen wir darauf, dass das Wort „Volk“ in unseren Sprachalltag wieder aufgenommen wird! Ohne braune Färbung. Verzichten wir auf „völkisch“ und „Umvolkung“, aber bleiben wir hart bei „Volk“. Die Nationalsozialisten haben es nicht verdient, dass es ihnen gehören dürfte. Würden wir es den Braunen überlassen, hätten Hitler und Goebbels am Ende doch gewonnen, nur weil sich ihre politisch korrekten Gegner das Wort aus dem Mund nehmen lassen.

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Quelle: Eine kurze Geschichte der deutschen Sprache, von Jochen A. Bär
Bild: Reichstag_inschrift.jpg Von Lighttracer – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0,