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wo es um Sprache geht (noch im Umbau)
Im Tunnel der Horizont

Freitag 16 April 2021

(ausnahmsweise ein etwas längerer Beitrag)

Wissenschaftler sorgen eigenhändig dafür, dass ihre Leistung wenig gewürdigt wird. Sie veröffentlichen gleich auf Englisch, ohne den vermeintlichen Umweg über die eigene Sprache.

Words fail me (Bild Fotolia)

Ob Wissenschaftler miteinander auf Deutsch, Englisch oder Mandarin verkehren, geht nur sie an, sollte man meinen. Sie wissen, was sie tun, in ihrem Fachgebiet. Beim Umgang mit der Sprache jedoch irren sie. Auf Englisch müssen sie nicht nur veröffentlichen, sie wollen auch wahrgenommen werden, und das ist nicht dasselbe. Die englische als die Weltsprache der Wissenschaft zu preisen, soll wie ein Trumpf alle Bedenken stechen. Zwei Kardinalfehler bleiben dabei unbeachtet: Der eine fußt auf einem Missverständnis, der andere auf einer Missachtung.

Das Missverständnis ist so leicht erklärt, wie es schwer auszuräumen ist. In aller Regel beherrschen Wissenschaftler keine Fremdsprache so gut wie ihre eigene. Bis auf die mehrsprachigen Könner; um diese winzige Minderheit geht es hier aber nicht. Den Übrigen gelingt schöpferisches Denken in der fremden Sprache so, als müssten sie zum Sprint in Wanderstiefeln antreten. Das gilt auch für die Darstellung ihrer Arbeit. Sogar Mathematiker benötigen die Bilder und vor allem das Bildende einer reichhaltigen Sprache, und der Umgang will geübt sein. Selbst die größten Geiger proben täglich. Die Musik vom Blatt zu fiedeln, ist Virtuosität, keine Kunst.

Überschätzte Englischkenntnis

Woher beziehen die Wissenschaftler den Traum, man könne Englisch beherrschen? Wäre der sprachlich hilflose Stephen Hawking etwa ein Experte minderer Klasse? Unsere Englischkenntnisse überschätzen wir hierzulande nicht nur ein bisschen, sondern maßlos. Das hört keiner gern, aber Wissenschaftler belegen das mit ihrem Stummelenglisch. Der Mediziner Eckhart Hahn meint, deutsche Forscher wirkten mit Englisch „unbeholfen im Diskurs mit englischen Muttersprachlern wie Babys“. Woher auch sollten sie es besser können? Von Biologen ein geschliffenes Englisch zu verlangen, damit sie sich in ihrem Fach qualifizieren, ähnelte einer Rechtschreibprüfung für Marathonläufer.

„Der unter deutschen Gebildeten am weitesten verbreitete Aberglaube ist, dass sie Englisch können“, meinte der Publizist Johannes Gross; er kannte sich aus. Engländer und Deutsche verstehen schon unter angeblich identischen Begriffen nicht dasselbe. Unsere Milliarde ist in den USA eine Billion, in England nicht immer – ein schlichtes Beispiel. Schwerer wiegt dieses: Justice gilt als die richtige Übersetzung für Gerechtigkeit. Im Englischen steht mit justice meistens die Gerechtigkeit vor Gericht im Brennpunkt. „Wenn wir Deutschen von Gerechtigkeit sprechen, meinen wir eher Aspekte, die sich mit fairness oder equality übersetzen lassen“, sagt die Indogermanistin Rosemarie Lühr. Da lässt sich erahnen, wie sich Wissenschaftskulturen schon an der Sprache scheiden.

Außerdem unterschätzen wir das rhetorische Werkzeug, mit dem der native speaker den Nichtmuttersprachler schachmatt setzt. Für die Wissenschaften ist Eloquenz jedoch kein brauchbarer Maßstab. Da geht es um Substanz und darum, wie man sie vermittelt. Für beides sind die Experten mit der Muttersprache besser gerüstet. Englisch anstelle der Muttersprache kann daher nicht genügen, die Weltsprache ist kein Ersatz, sondern eine Ergänzung.

Unterschätzte Übersetzer

Der Irrtum deutscher Wissenschaftler, dass ihr Englisch genüge, ist verständlich. Wer einen Fachartikel aus The Lancet versteht, mag sich in dem Glauben wiegen, Gleiches zu schreiben bringe auch er fertig. Irrtum, verstehendes Lesen ist eine rezeptive Sprachfähigkeit. Die produktive Fähigkeit, auf hohem Niveau zu schreiben, verlangt hingegen Sprachkunst. Auf C2, der höchsten Stufe des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER), begegnet man Muttersprachlern in einem nach oben offenen Raum. Sprachkenner wissen, dass sogar ein Jahrzehnt an der University Wisconsin nicht genügt, um mit native speakers auf gleicher Augenhöhe mitzuhalten.

Sinngemäß trifft auf Wissenschaftler zu, worum die Brüsseler Dolmetscher immer wieder bitten: Bleiben Sie in Ihrer Muttersprache, dann können wir sagen, was Sie ausdrücken möchten! Woran sich Wolfgang Schäuble nicht hält, aber er glaubt sich richtig verstanden. Am Arlberg wären wir skeptisch, würde einer zum Bergretter berufen, weil er im Pulverschnee eine gute Figur macht. Engländer und Amerikaner, zumeist keine Experten fremder Sprachen, sind da gnadenlos. Sie setzen den souveränen Umgang mit ihren Redensarten und Redewendungen voraus; als Fremder verwendet man sie oft glücklos, man blamiert sich, man „gehört nicht dazu“. Kurzum, es gibt keinen guten Grund, auf die Dienste hervorragender Übersetzer zu verzichten – außer einer guten Frage: Gibt es sie in ausreichender Zahl? Wenn nicht, müssen wir sie ausbilden, schätzen und gut bezahlen. Sie bilden die Infrastruktur des wissenschaftlichen Austauschs.

Des Problems zweiter Teil

Offen ist das zweite Problem, die Missachtung eines wesentlichen Unterschiedes, den wir im gängigen Glauben an die Gleichheit aller Menschen nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Da sie in ihren Sprachen verschiedene Wege des Denkens gewohnt sind, kommen Chinesen zu abweichenden, vielleicht besseren Lösungen als Franzosen oder Deutsche. Das beflügelt den Wettstreit der Ideen, es verhindert den Tunnelblick auf den Horizont. Lassen sich alle auf nur eine Sprache ein, werden sie zu den gleichen Denkroutinen neigen und auf Lösungswege durch anders gebildete Denkwelten zunehmend verzichten. Die Weltsprache dient nun mal zu vielen Herren und verliert dabei an Genauigkeit. Um sich dennoch bildhaft auszudrücken, zugleich präzise zu bleiben, muss man sich im Englischen viel mehr bemühen – und das Werkzeug dafür kennen. Das ist zu schaffen, aber es lenkt ab von der eigentlichen, der wissenschaftlichen Arbeit.

Der Glaube, es werde sich das Beste von alleine durchsetzen, ist eine – nur scheinbar darwinistische – Auffassung. Charles Darwin würde an ihr verzweifeln. Dieser Glaube ist eine blasse Hoffnung. Die Bedeutung des Englischen entfaltet sich entlang einer historischen Linie, die weniger dem klaren Denken als der wirtschaftlichen Verdrängung verpflichtet war und weiterhin ist. Sprachlichen Imperialismus zu beklagen, ist hier nicht der Ort. Wo aber Innovationen gar nicht erst zum Zuge kommen, weil sie sprachlich quer liegen, da blockiert sich die Weltgemeinschaft derer, die Wissen schaffen und lehren.

Argumentative Routinen

Verfasser von Fachbeiträgen müssen endlich einsehen, dass die Wahrnehmungsfähigkeit der Leser für die mutmaßliche Logik von Sprache zu Sprache variiert. Es gibt anerkannte argumentative Routinen, die in wissenschaftlichen Aufsätzen obwalten. Beiträge werden leicht ignoriert, wenn ihre Form den Lesern als unangemessen vorkommt. Hat ein Schüler das Thema verfehlt, quält sich sein Lehrer trotzdem durch den Aufsatz, er möchte eine gerechte Note geben. Angesichts eines deutschen Fachaufsatzes verhalten sich anglophone Kollegen vielleicht ebenso fair, sie müssen es nicht. Selbst wenn es in vorzüglichem Englisch vorläge, würden sie manches Papier nicht lesen, wenn sie sich an „dieser typisch deutschen“ Eigenart unserer Argumentationsweise stören. So kann schon die Einleitung eines wissenschaftlichen Papiers bewirken, dass es kaum gelesen wird.

Deutsche Wissenschaftler verkennen, dass ihre Darstellung bei den englischen Muttersprachlern als nicht üblich gilt. Unstrittig ist das Übliche, es wird vorgezogen. Das geht Experten nicht anders. Sie sorgen sich um ihre akademische Reichweite: Welche Publikationen werden wo zitiert? Die Deutungshoheit über das Zitierbare und das Ignorierbare liegt bei den Zitierindizes (der wichtigste ist der amerikanische Science Citation Index, SCI). Zitierkartelle gab es schon vorher – Netzbürger kennen ähnliche Meinungsblasen aus den sozialen Medien; was nicht passt, bleibt ausgeblendet. Neu ist, dass Unternehmen darüber befinden, welche Fachmagazine, welche Netzseiten in die Indizes aufgenommen werden und welche nicht. Unabhängig vom Inhalt bleibt jedenfalls außen vor, was nicht auf Englisch erschienen ist. Allein das müsste Zweifel an dieser amerikanisch geführten Wissenschaftskultur wecken.

Was nicht mehr rückgängig zu machen ist: Wissenschaftler müssen auf Englisch verkehren, und die Leistung der Hochschulen muss gesehen werden. Das gelingt umso besser, je mehr Ansehen die Wissenschaftler erwerben, wie Eichhörnchen die Nüsse sammeln. Aus den Zählungen der Indizes entstehen Ranglisten des Ansehens. Wer oben steht, kann Sponsoren und Fördermittel einwerben. Die Menge der Nüsse und ihre Sortierung müssen nur dem entsprechen, was die Amerikaner als üblich ansehen.

Begriffslogik gegen Plädoyer

Diese Einschränkung kann man nicht ernst genug nehmen. Deshalb erlernen klugerweise die deutschen, spanischen, japanischen Autoren als Zusatzqualifikation die „am besten zitierbare“ Form. Sie nehmen lernend zur Kenntnis, wie im Englischen bereits auf der Schule in den Debattierklubs typische Routinen des Denkens eingeübt werden. Peter Ustinov berichtet, wie er als Schüler gezwungen wurde, nicht seinen Standpunkt, sondern den der Gegenseite zu vertreten. Auf diese Weise lernt zu gewinnen, wer den anderen rhetorisch aufs Kreuz legt. Das könnte als Sport durchgehen, einem Austausch von Erkenntnis nützt es nicht.

Im Wörterbuch finden wir die Konjunktion weil. Anscheinend ein klarer Fall: weil entspricht because, es geht um Begründung. Dictleo.org im Internet bietet an: because, by reason that, due to the fact that, in that, since. Daraus geht aber nicht hervor, dass weil und because im Diskurs den Einstieg in zweierlei Wissenschaftskulturen darstellen. „Deutsche Autoren entfalten an dieser Stelle mit Vorliebe die Logik eines Begriffs, während englische Überzeugungsarbeit leisten und ein Plädoyer halten“, führt der Lateindozent Burkhard Müller aus. In der Tradition englischer Universitäten werden die Dinge, wie vor einem Gerichtshof, durch einen formalisierten Streit geklärt. „Heißt es because, darf man sich darauf gefasst machen, nunmehr die unterstellten Motive des Gegners zu hören.“ Wir kennen so etwas aus verfilmten Verhandlungen vor englischen Gerichten. Sie sind unterhaltsamer als die Szenen in deutschen. Ob sie gerechter sind – nach unserem Rechtsempfinden – tut nichts zur Sache, im Englischen zählt die Kunst der Debatte.

Problemlos ignorierte Texte

Die Wissenskulturen sind in ihren Muttersprachen zu Hause. Beschränkten wir uns auf Englisch, käme das dem Verzicht auf vier Fünftel des weltweit erzielbaren Erkenntnisgewinns gleich. In jeder Fachgemeinschaft hat sich eine Erwartungshaltung herausgebildet, welche Darstellungsform sie als wissenschaftlich anerkennt. Aus deutscher Feder liest sich schon die Einleitung zu einem wissenschaftlichen Papier grundlegend anders als die eines englischen Autors, sagt der Linguist Winfried Thielmann, „mit dem fatalen Ergebnis, dass bei einfacher Übersetzung des Textes in ansonsten makelloses Englisch dennoch Verwirrung und Unmut resultieren.“ Der erste Eindruck bestimmt, ob man weiterliest. Deutsche Einleitungen würden bei Engländern auf „blankes Unverständnis“ stoßen, sagt Thielmann: „Es ist davon auszugehen, dass Wissenschaftler, die das Englische für … einfach und problemlos hantierbar erachten, Texte produzieren, die im angelsächsischen Sprachraum … ebenso problemlos ignoriert werden können.“ Sein Rat: Die Einleitung nicht übersetzen, sondern völlig neu aufbauen! Gar nicht so einfach, denn um im Rahmen englischer Traditionen zu denken, müsste man in ihnen aufgewachsen sein.

Lösung in vier Stufen

Verteidiger der englischen Lingua franca berufen sich auf die Rolle des Lateinischen im Mittelalter: Da habe sich die akademische Welt auf eine Sprache beschränkt. Das stimmt nur zum Teil: Während und nach der Renaissance ging die plötzliche Fülle der wissenschaftlichen Erkenntnisse einher mit dem Niedergang des Lateins. Galilei, Leibniz, Newton hätten noch mit lateinischer Disziplin, aber bereits in italienischen, deutschen, englischen Gedankenflüssen gedacht, rückt der Sprachwissenschaftler Helmut Glück das Argument ins Licht. Sie unterschieden zwischen der Denkleistung in der Muttersprache und ihrer Veröffentlichung in der Weltsprache.

Würde das verstanden, sähe die Reihenfolge heute ähnlich aus: erst die logischen Routinen, in denen Beiträge entwickelt werden, dann die Sprachen ihrer Veröffentlichung. Vier Stufen der Lösung bieten sich an:

    • (1) Man schreibt und veröffentlicht in Fachmedien der Muttersprache

 

    • (2) Noch in der Muttersprache verfasst man das Papier neu für anglophone Lesegewohnheiten: zumindest die Einleitung

 

    • (3) Professionelle Fachübersetzer schaffen aus Fassung (2) die englische Version

 

    (4) Auf Englisch veröffentlicht wird das Produkt aus (3)

Was wie ein teurer Aufwand aussieht, eröffnet die beste, vielleicht einzige Chance auf sicheren Eingang in die Zitierindizes. Dazu müssen verloren gegangene deutsche Fachmedien, zumindest digital, neu gegründet werden. Für Übersetzer müssen Planstellen entstehen. Ein Übersetzer, der sein Können täglich stundenlang probt wie der Primgeiger seine Etüden, ist durch keinen Amateur ersetzbar. Auch künstliche Intelligenz kann Übersetzer und Dolmetscher auf dem hier geforderten Niveau nicht ersetzen, denn wo Neues, bisher nicht Gedachtes entsteht, scheitern Algorithmen; sie kombinieren nur, was bereits da ist, das ist vielleicht originell, aber nicht kreativ.

Wissenschaftler und Politiker sollten sich auf die Muttersprache besinnen und den Umgang mit der Weltsprache neu begreifen. Die Frage stellt sich auch geopolitisch: Haben etwa die Araber, oder Chinesen – dem Abendland jahrhundertelang überlegen – der Welt nichts Wichtiges zu bieten? Müssten wir, wenn schon unterwürfig, nicht besser Mandarin lernen, schon in der Kita? Oder entdecken wir spätestens an dieser Wegmarke, dass jede vernünftige Überlegung in und mit der Muttersprache beginnt?


Langfassung des Beitrags in den Sprachnachrichten des Vereins Deutsche Sprache vom Frühjahr 2021 (Nr. 2/2021).


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