baerentatze

Hier geht es um Sprache (zur Zeit im Umbau)
Worte an der Wäscheleine

Sonntag 1 November 2020

Wörter bestehen aus Buchstaben, Worte aus Gedanken. Wahlprogramme schneiden schlecht ab, wenn man sie auf ihre Verständlichkeit abklopft. Peinlich ist ihre Nachbarschaft zu Antwortschreiben auf Bauanträge, Doktorarbeiten von Politologen, Geschäftsbedingungen der Banken und dem Berliner Koalitionsvertrag. Das folgt aus einer Studie an der Universität Hohenheim, wo seit über zehn Jahren deutschsprachige Wahlprogramme auf Verständlichkeit überprüft werden.

Wählerpotenzial unterwegs: von rechts nach links! (Bild Fotolia)

„Omi, ist das Ding eingeschaltet?“ Der Poweronpoweroffknopf steht für An/Aus, das erklären uns die Enkel. Wenn uns das mentale Wörterbuch nicht verlassen hat, steht power für Macht: Ein Knopfdruck, und zu deiner Verfügung steht Macht. Meinen das die Grünen, wenn sie Leute empowern wollen? Enthalten sind solche Sprachhülsen im Hamburger Wahlprogramm, mit dem die Grünen bei der Bürgerschaftswahl so furiose Zugewinne erzielt haben. Die anderen Parteien sind nicht besser, die Sozialdemokraten protzen mit der Klimaroadshow und wollen das – vermutlich verpennte – Hamburg zur Active City machen. Übertroffen werden sie nur von der FDP, die sich mit Educational Data Mining und Cops4you anbiedert. Da kotzt der Mops und dem Wähler stehen die Haare zu Berge.

Wenn die Wahlprogramme denn gelesen würden! Wenn sie es denn Wert wären gelesen zu werden! Auf der bewährten Hohenheimer-Skala von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich) werden die Hamburger Programme mit kargen 7,8 Punkten benotet. Gewählt wird in Wirklichkeit, wer glaubwürdig erscheint. Von Programmen überzeugt wird nur, wer bereits überzeugt ist. Insofern erübrigen sich solche Papiere. Die Not der Parteien ist aber zu verstehen, denn das vertraute Links-Rechts-Schema der Politik ist zur Beschreibung der Wirklichkeit kaum noch zu gebrauchen. Klammert man die politischen Positionen wie wollene Wäsche auf eine Leine, bleibt zwischen links- und rechtsaußen vieles, was den Bürgern wichtig ist, falsch plaziert, egal wo man die Klammer ansetzt.

Nennt ein Grüner seinen Protest gegen rechtsaußen verkürzt „gegen rechts“, so missbraucht er die Sprache, denn wer sich um den Schutz der Umwelt bemüht, ist im wahren Sinne des Wortes ein Konservativer, an der Wäscheleine hängt sein Streben demnach rechts der Mitte. Woran liegt es? So eine Leine zwischen zwei Pfosten ist eine eindimensionale Wiedergabe der Wirklichkeit. Die Leine gibt die Wirklichkeit nur dürftig wieder. Das war immer so, nun aber wird es dringend, für die Wirklichkeit die passende Sprache zu finden. Die alte Leine wird quer von einer anderen gekreuzt, sie spannt von den weltbürgerlichen Gewinnern der Globalisierung bis zu den in trauter Gemeinschaft Beheimateten, welche die Globalisierung als Bedrohung erfahren. Links und Rechts sind derart verwirbelt, dass sich die alten Parteilinien darin verheddern.

Gewählt wird, wer anscheinend, oder auch nur scheinbar glaubwürdig dasteht. Da bleibt dem Wähler nichts übrig als genau hinzuhören und mit Verstand zu prüfen, was ihm vorgeschlagen oder auch nur vorgemacht wird. Verstand, Verständlichkeit? Je mehr Übung im Umgang mit der Sprache, desto weniger lässt sich der Wähler an der Nase herumführen. Power steht auch für Energie. Die muss zum Gebrauch des Gripses jeder selbst aufbringen, sonst hauen wir einander nicht nur Wörter, schwer verzeihliche Pöbeleien, sondern auch Gegenstände um die Ohren. Das muss nicht sein, ein bisschen Sprachgefühl ist ganz nützlich.


Dieser Beitrag wurde im Frühjahr 2020 in den Sprachnachrichten des Vereins Deutsche Sprache (1/2020) veröffentlicht, und hier im Blog der baerentatze umständehalber erst heute.


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